Bericht und Titelbild: Daniel Niebuhr
Das Jahrhundertspiel des SV Atlas am 10. August 2019 trägt seinen Namen auch deshalb zurecht, weil es Jahrhunderte dauern würde, all seine Geschichten zuende zu erzählen. Offiziell ging das DFB-Pokal-Duell gegen Werder Bremen mit einem 1:6 in die Statistik ein, seine Bilder werden den meisten der 12.000 Delmenhorster im Bremer Weserstadion aber wohl ewig im Gedächtnis bleiben.
Eines davon werden jedoch die wenigsten wahrgenommen haben – weil die Geschichte dazu nur beinahe passiert wäre: Emiljano Mjeshtri, wie er durch den Nebel der Rauchbomben trabte, die die Werder-Fans gerade gezündet hatten. Der 19-Jährige, dessen Nominierung für den Kader schon eine kleine Sensation gewesen war, lief sich in der zweiten Halbzeit mit den anderen Atlas-Ersatzspielern vor der Ostkurve warm, während seine Teamkollegen vor 41.500 Zuschauern dem Bundesligisten die Stirn boten. Das Spiel wurde in Mjeshtris Heimat Albanien live übertragen, doch seine Einwechslung wäre dem Fußball-Gott dann wohl doch zu kitschig gewesen.
Auf ein DFB-Pokalspiel muss Mjeshtri also noch etwas warten, doch man möchte fast darauf wetten, dass er es eines Tages nachholt – so verrückt, wie sein Weg in Deutschland bisher schon verlaufen ist. Der Stürmer kam scheinbar aus dem Nichts und ist bei Atlas die größte Überraschung der frühen Saison und seit Sonntag der beste Torschütze des Vierten der Fußball-Oberliga, dabei hatte ihn vor einigen Wochen noch kaum jemand auf der Rechnung gehabt. „Ich kann kaum glauben, wie gut es gerade läuft“, sagt er selbst.
Noch im Sommer hatten die wenigsten erwartet, dass Mjeshtri so schnell in der fünfthöchsten Spielklasse Fuß fassen würde. Er war zweifellos das sportlich unbeschriebenste Blatt unter den Neuzugängen: Von einem zehnminütigen Kurzeinsatz abgesehen beschränkte sich seine Herren-Erfahrung ausschließlich auf die Kreisliga. Seine private Geschichte war da umso spannender: Mit 15 war er mit seinem Vater aus Albanien gekommen und hatte im Stadionheim gewohnt – von wo er beste Sicht auf die Heimspiele des SV Atlas hatte, für dessen Jugend er zu kicken begann. Sein Vater ist inzwischen zurück in der Heimat, er durfte bleiben, weil die Familie seines Teamkollegen und Freundes Julian Musiol ihn als Pflegekind aufnahm.
Was seitdem passiert ist, ist ein Fest für jeden Fußball-Romantiker. Mjeshtri startete in der zweiten Mannschaft als 17-Jähriger in die erste Herren-Saison, seit dem Start der zweiten hört er nicht mehr auf mit dem Toreschießen. Mit 28 Treffern wurde er Kreisliga-Torschützenkönig, gleichauf mit Atlas-Rekordtorschütze Dominik Entelmann. Im Winter war er schon bei den Testspielen der Oberliga-Mannschaft dabei, im Sommer wurde er endgültig befördert. „Er lebt für den Fußball und unseren Verein, man muss ihn aber auch oft bremsen, weil er zu viel auf einmal möchte“, sagte Leistungsfußball-Leiter Bastian Fuhrken damals.
Schon seine Berufung in das DFB-Pokal-Aufgebot ließ aufhorchen, sieben anderen aus dem Kader war dieses Privileg nicht vergönnt gewesen. Er feierte seine Oberliga-Startelf-Premiere beim 6:3 gegen Lupo Martini Wolfsburg – und traf direkt. Am Sonntag legte er beim 3:0-Auswärtssieg beim TB Uphusen die Saisontreffer zwei und drei nach, darunter ein wuchtiger Kopfball gegen deutlich größere Verteidiger. „Diese beiden Spiele waren ein Traum-Debüt für mich, damit hätte ich niemals gerechnet“, sagt Mjeshtri, der zurecht Wert auf die Feststellung legt, „dass ich mir dieses Glück auch hart erarbeitet habe“.
Seine Bilanz seit dem Start der vergangenen Saison ist kaum zu glauben. In erster und zweiter Mannschaft zusammen hat er in 32 Spielen 32 Tore erzielt, rein statistisch traf er alle 77 Minuten, in der Oberliga braucht er für ein Tor in dieser Saison sogar nur 43 Minuten. Mjeshtri, der (wie sechs weitere Atlas-Spieler) in Delmenhorst wohnt und in Bremen eine Ausbildung zum IT-Systemkaufmann absolviert, sieht in seinen Trainern den Hauptgrund für seine Entwicklung. Reserve-Coach Daniel von Seggern verdanke er eine Menge, sagte er schon im Sommer, am Sonntag zollte er Oberliga-Trainer Key Riebau Anerkennung: „Er passt genau zu unserer Mannschaft. Es macht momentan einfach Spaß.“ In einem Kader, aus dem nach sechs Spielen bereits zehn verschiedene Spieler getroffen haben, wird Mjeshtri allerdings gut daran tun, auch weiterhin nichts für selbstverständlich zu nehmen.