Ein Bericht vom
von Lars Pingel und Daniel Niebuhr
Das Wort "historisch" ist in den vergangenen Monaten oft in Verbindung mit der zurückliegenden Fußball-Saison 2019/20 verwendet worden. Die weltweite Corona-Pandemie hatte diese Mitte März unterbrochen und dann in Niedersachsen zu einem Abbruch und einer Wertung nach Punkten pro Spiel geführt. Hinzu kam, dass Abstiege ausgeschlossen und Aufstiege möglich wurden. Und so konnte der SV Atlas Delmenhorst am Freitag als Oberliga-Vizemeister und somit als Regionalligist in die Vorbereitung auf die Spielzeit 2020/21 starten. Ob diese in einer Rückschau ebenfalls mit einem so starken Adjektiv beschrieben werden wird, ist natürlich ungewiss. Als sicher darf aber gelten, dass "einmalig" schon jetzt passt: 22 Mannschaften gehören zur Regionalliga Nord. Sie werden laut der Planung des Norddeutschen Fußball-Verbands vom ersten September-Wochenende an zunächst in zwei Staffeln spielen, anschließend geht es in Auf- und Abstiegsrunde weiter. Völlig anders und komplett ungewohnt ist auch die Vorbereitungsphase. "Das ist eine Situation, die so noch nie dagewesen ist", sagt Atlas-Coach Key Riebau, der diese gemeinsam mit seinem Trainerteam und der sportlichen Leitung geplant hat. "Man versucht, wieder ein bisschen Normalität hineinzubekommen. Es ist daher wichtig, dass es jetzt richtig losgeht."
Viereinhalb Monate liegt die letzte Partie zurück, die der SV Atlas über 90 Minuten plus Nachspielzeit bestritten hat. Nach jenem 3:0 über Kickers Emden war die Saison zu Ende. Inzwischen sind die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, die zeitweise den Sportbetrieb lahmgelegt hatte, soweit gelockert worden, dass Training in gewohnter Form wieder erlaubt ist. Auch Wettkämpfe, wie Test- und Punktspiele, sind im Amateurbereich möglich, allerdings nur "wenn sie in Gruppen von nicht mehr als 30 Personen" erfolgen, erklärt die Landesregierung auf ihrer Internetseite. Das galt zum Beispiel für das erste Testspiel der Delmenhorster am letzten Samstag beim Oberliga-Aufsteiger BW Lohne. Es gab weitere Einschränkungen. Maximal 350 Zuschauer durften ins Stadion an der Steinfelder Straße, 300 davon Sitzplätze.
Angesichts der langen Pause sei die Vorbereitung "leicht gesplittet" worden, erzählt Riebau. Teile seiner Mannschaft haben bereits an zwölf Tagen trainiert. "Wir haben vor allem im körperlichen Bereich gearbeitet, um die Spieler wieder an den Alltag zu gewöhnen", erklärt der Atlas-Coach. Nach fünf freien Tagen konnte er am Freitag das fast komplette neue Team begrüßen. Nur Kostadin Velkov, einer von fünf Neuen, hat noch Urlaub, erklärt Bastian Fuhrken, Leiter Leistungsfußball. Velkov kam vom Drittligisten Chemnitzer FC, der wie alle Profiteams die Saison 2019/20 noch zu Ende gespielt hat. In Liga drei war erst am 4. Juli Schluss. Außer Velkov hat der SV Atlas den ungarischen U19-Nationalspieler Olivér Schindler (SV Lippstadt), den 61-maligen Drittligaspieler Philipp Eggersglüß (RW Oberhausen) und die Delmenhorster Dimitrios Ferfelis (FC Gießen) und Luca Liske (JFV Nordwest Oldenburg) verpflichtet. Dem stehen die Abgänge von Leon Lingerski, Kevin Radke, Keisuke Morikami, Aleksander Jankovic, Robert Plichta und Jannik Vollmer gegenüber. 19 Spieler aus dem Oberliga-Kader werden also auch in der vierthöchsten Klasse auflaufen.
Andere Regionalliga-Vereine rotieren deutlich kräftiger. Der Hamburger Aufsteiger Teutonia Ottensen – zunächst keiner der Atlas-Gegner – hat nur neun Spieler in seinen Reihen, die schon in der Oberliga dabei waren. Von 16 Aktiven hat sich der Verein getrennt, zwölf neue unterschrieben bisher Verträge. Über so etwas wurde in Delmenhorst nicht einmal im Ansatz nachgedacht. "Es ist uns wichtig, dass wir Atlas weiter in uns tragen", erklärt Riebau: "Es wäre doch auch für unsere Fans sehr schwierig, wenn plötzlich alles neue Spieler hier wären." Er legt weitere gewichtige Argumente für diese Vorgehensweise nach:
„ Wir waren eine homogene Truppe. Das wollten wir beibehalten. Und wir vertrauen den Spielern. Wir trauen ihnen die Regionalliga absolut zu. Die Qualität stimmt.“
Dass sich der Atlas-Trainer auf die erste Trainingseinheit freut, liegt nicht nur an dem Stück sportliche Normalität, die sie einläutet. Das Vorspiel hat ebenfalls viel dazu beigetragen. "Alle haben super mitgezogen", lobt Riebau die ersten Konditionseinheiten. "Das ist ein gutes Zeichen. Es ist aber auch sehr wichtig, dass wir in einem erstklassigen körperlichen Zustand in die Saison gehen", sagt der A-Lizenz-Inhaber, der zwischen 2017 und 2019 als Trainer des Süd-Staffel-Konkurrenten SSV Jeddeloh 52 Regionalligaspiele gecoacht hat. Das Tempo sei in diesen deutlich höher als in Oberligapartien. "Wir müssen in der Lage sein, 90 oder 95 Minuten lang zu arbeiten." Fitness sei zudem notwendig, um die Partien mental gut durchzustehen. Konzentrationsfehler, die schon in der Oberliga wehtun können, würden in der Regionalliga mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bestraft. Ab sofort werde er mit seiner Mannschaft einen Schritt nach dem anderen machen, um diese Ziele zu erreichen: "Es bringt uns ja nichts, wenn wir in zwei Wochen fit sind. Wir müssen am Anfang der Saison voll auf der Höhe sein."
Wie verrückt das alles eigentlich ist, hat Manfred Engelbart am Freitag mal wieder am besten erklärt. Der Clubchef beobachtete an dem lauen Sommerabend den Auftakt in die heiße Vorbereitungsphase des SV Atlas, gab nebenbei Interviews und führte ein Fernsehteam herum – dabei stand ihm der berechtigte Stolz durchgehend im Gesicht. „Eigentlich“, sagte Engelbart entwaffnend ehrlich, „ist dieses Abenteuer eine Nummer zu groß für uns. Aber verzichten kam ja auch nicht infrage.“Also stürzt sich Atlas nun in besagtes Abenteuer, das Fußball-Regionalliga heißt und seit Freitag wieder ein Stück greifbarer geworden ist. Der Aufsteiger trainierte erstmals mit fast komplettem Aufgebot, das sich – einschließlich Coach Key Riebau und Co-Trainer Malte Müller – ausnahmslos extrem motiviert präsentierte, auch wenn es bis zum ersten Punktspiel am 5. oder 6. September noch sechs Wochen dauert.
Mit Olivér Schindler, Philipp Eggersglüß und den Delmenhorstern Luca Liske und Dimitrios Ferfelis waren vier der fünf Neuzugänge da, nur der Bulgare Kostadin Velkov, der noch lange in der 3. Liga für den Chemnitzer FC im Kader stand, fehlte noch urlaubsbedingt.
„Ich fühle mich sehr wohl hier. Bislang gefällt es mir gut bei Atlas“, sagte Schindler, der ungarischer U19-Nationalspieler ist.
Engelbart fand, dass „wir uns hervorragend verstärkt haben“ und betonte das Konzept dahinter. Andere Aufsteiger verpflichteten eine deutlich zweistellige Zahl an Neuzugängen, Atlas versuchte, die Balance zu halten. „Wir wollen Delmenhorster holen oder Spieler, die in der Region verwurzelt sind. Und das gepaart mit starken externen Spielern“, sagt der Vorsitzende. Ganz abgeschlossen habe der Club mit dem Transfersommer 2020 auch noch nicht – ein Außenangreifer steht noch auf der Wunschliste: „Wir sind in Verhandlungen.“
Das Training wurde zwar von überdurchschnittlich viel Medieninteresse begleitet, aber von kaum Zuschauern.
Der Club hatte die Anfangszeit bewusst nicht veröffentlicht. „Wir wollten einen großen Auflauf in diesen Zeiten verhindern“, erklärte Leistungsfußball-Leiter Bastian Fuhrken, der schon wieder voll auf Betriebstemperatur ist: „Man spürt das Kribbeln wieder.“