Einige Zuschauer hatten das Stadion schon verlassen, die ersten Analysen für das Oberliga-Spiel zwischen dem TuS Bersenbrück und dem SV Atlas Delmenhorst wurden unter den Fußball-Fans bereits gezogen – doch am Sonntagnachmittag um 16.48 Uhr verwandelte sich das Hasestadion für kurze Zeit in ein blau-gelbes Tollhaus: Die SVA-Spieler rannten quer über den Platz und fielen ihrem Mitspieler Thade Hein um den Hals, Trainer- und Betreuerstab herzten sich und unter dem Atlas-Anhang gab es eh kein Halten mehr. Was war passiert?
In der zweiten Minute der Nachspielzeit spielte Atlas-Angreifer Oliver Rauh den Ball in den Bersenbrücker Strafraum. Marvin Osei erreichte die Kugel zwar nicht, irritierte aber vielleicht Bersenbrücks Torwart Christoph Bollmann. Denn der nahm den Ball nicht in die Hand, sondern traf mit seinem Klärungsversuch seinen Mitspieler Sandro Heskamp im Gesicht und knockte ihn völlig aus. Während auch Osei die Orientierung verloren hatte, kullerte der Ball in den Fünf-Meter-Raum, wo der durchlaufende Hein die Kugel aus vier Metern zum 2:1 (1:1)-Siegtreffer nur ins leere Tor schieben musste – mit seinem ersten Ballkontakt, nur 20 Sekunden nach seiner Einwechslung.
Atlas Delmenhorst erreicht die nächste Etage
Es war ein klassisches Slapstick-Tor. Doch das war den Gästen völlig schnuppe. Denn nach fünf weiteren Minuten Nachspielzeit war der erste Auswärtserfolg per 2:1 (1:1) perfekt – und der Jubel im Atlas-Lager riesengroß. „Das war ein tolles Fußballspiel von zwei Mannschaften mit viel Qualität. Das war auch für mich viel Arbeit“, atmete Atlas-Trainer Jürgen Hahn nach dem Schlusspfiff tief durch. In den Worten des 47-Jährigen schwang nach den Punkten fünf bis sieben natürlich auch eine Menge Stolz über die Leistung seiner Elf mit. „Die Mannschaft versteht, wie wir Fußball spielen wollen“, freute sich Hahn.
Nach dem Erfolg im Niedersachsenpokal bei Landesligist BW Lohne (3:1) sowie den Liga-Spielen beim starken Aufsteiger FC Hagen/Uthlede (2:2) und gegen den Regionalliga-Absteiger VfV Hildesheim (3:1) sei es nun beim Topteam Bersenbrück leistungsmäßig „wieder eine Etage höher gegangen“, lobte Hahn. „Die Spieler setzen das um, was wir vor dem Spiel besprechen. Und wir können Ausfälle sehr gut kompensieren.“
Wie zum Beispiel Torwart Florian Urbainski, der 90 Minuten lang eine extreme Ruhe ausstrahlte und beim Stand von 1:1 erst „überragend“ (Hahn) gegen Max Tolischus parierte (82.) und dann eine gefährliche Bogenlampe von Bulani Malungu (90.) aus dem Winkel fischte. Oder wie Allrounder Thomas Mutlu, der wie gewohnt 90 Minuten lang ackerte und rackerte und nach Spielende völlig ausgepowert erst einmal mit dem Fan-Nachwuchs spielte. Und vor allem wie Innenverteidiger Marlo Siech, der gefühlt kaum einen Zweikampf verlor. „Ich glaube, jede Halbzeit nur einen einzigen“, scherzte er nach Spielende und meinte: „Ich war schon ganz gut drauf.“
In seiner Spielanalyse sprach Siech aber das aus, was alle blau-gelben Protagonisten nach Spielende hervorhoben: „Wir haben vor allem als Team klasse gespielt. Wir haben defensiv kaum etwas zugelassen. Unser Siegtor fiel vielleicht etwas glücklich, aber wir hatten auch den größeren Willen.“
Vor 550 Zuschauern (davon 200 Delmenhorster) überraschte Atlas-Trainer Hahn Gegner und Fans mit der taktischen Ausrichtung. Atlas startete erst im 4-3-3-System, stellte dann Mitte der ersten Halbzeit auf ein 4-2-3-1-System und kehrte in der zweiten Hälfte wieder zum 4-3-3 zurück. Und: Atlas spielte ohne gelernten Stürmer. Tom Schmidt tauchte meistens als falsche Neun auf, aber auch alle anderen offensiven Spieler wechselten häufig die Positionen. Selbst Thomas Mutlu initiierte einige Male als Mittelstürmer das Pressing. „Wir waren sehr variabel“, fand Hahn.
Das machte sich besonders in der Anfangsphase bemerkbar. Musa Karli zirkelte einen 18-Meter-Freistoß aus halbrechter Position unhaltbar über die Mauer in die Maschen – 1:0 (4.); es war das erste Freistoßtor des Technikers seit der Bezirksliga-Saison 2015/2016. Wenig später hätte Patrick Degen das 2:0 machen müssen (7.).
Musa Karli trifft mal wieder per Freistoß
Danach war Bersenbrück besser in der Partie. Vor allem Heskamp und Aaron Goldmann zogen die Fäden. Und was Karli kann, konnte Goldmann noch hübscher: Sein Ausgleich per 30-Meter-Freistoß war für Urbainski nicht zu halten – 1:1 (20.).
In der Folge sah das technisch, taktisch und läuferisch auf hohem Niveau ausgetragene Spiel so aus: Bersenbrück hatte viel Ballbesitz, Atlas die besseren Chancen. Bei Standardsituationen war Atlas gefährlich und hatte durch Stefan Bruns (46.), Leon Lingerski (57.) und Jannik Vollmer (74.) Kopfball-Chancen. Dann zielte der eingewechselte Oliver Rauh, der eine starke Trainingswoche hingelegt hatte, zwei Mal knapp am TuS-Tor vorbei (69./76.).
Als Keeper Florian Urbainski in der Schlussphase mit seinen Paraden das Unentschieden für den SV Atlas gesichert zu haben schien, wechselte Hahn seine Nummer 25 ein. Der Ausgang ist bekannt: Hein kam, traf – und jubelte.